Puccinis Turandot
in der Bayerischen Staatsoper

4 von 5 Operngläsern
Prädikat: Sehr sehenswert!







Große Show – aber zuviel des Guten!

30 Prozent weniger Spektakel und diese Turandot wäre großartig!

Die Zeit: Irgendwann in einer düsteren Zukunft à la Terry Giliams „Brazil“, nur eben in China.

Der Ort: Ein mit Neon-Reklamen überzogenes Peking, auf dem man Schlittschuh

läuft (so eiskalt ist die Gesellschaft geworden), tagsüber der nächsten Hinrichtung entgegenfiebert

und nachts mit dem ipad im www surft.

Zum tieferen Verständnis der reizüberflutenden Inszenierung muss man in etwa wissen,

wer hinter dem Spektakel steckt: „La Fura dels Baus“ (auf deutsch: die Frettchen vom Baus)

ist eine katalanische Theatergruppe, die gerne bildgewaltige Großveranstaltungen organisiert,

wie die Massennacktszene in Tom Tykwers „Das Parfum“ oder die legendäre Eröffnungsfeier

der Olympischen Spiele 1992 in Barcelona.
Seit einiger Zeit dürfen die „Fura“ nun auch den Dirigenten Zubin Metha zum Freundeskreis zählen.

Gemeinsam verwirklichten sie schon z.B. den Ring des Nibelungen in Valencia oder den

Tannhäuser an der Mailänder Scala. Nun also Turandot in München, und wieder spült es Zubin Metha

mit seinen liebgewordenen Frettchen im Kielwasser in die Oper.


Ich fürchte, so mancher Turandot-Liebhaber hätte das Baus’sche Getier aber lieber

genau dort, im Wasser, ersäuft. Denn diese Turandot gefällt nicht unbedingt. Sie ist vielmehr 

jeden Streit wert. Die augenfälligsten kontroversen Argumente im Überblick:

DAGEGEN!
Es ist zu viel los. Ständig rollt, schlürft, tanzt, bewegt sich etwas. Dazu grelle Kostüme,

überfrachtete Licht-Installationen und dann noch diese 3D-Bilder, die langweilen oder nerven.

Dieses Geraschel, wenn das gesamte Publikum gleichzeitig die Pappbrillen aufsetzt,

um für eine Minute ein weitgehend überflüssiges Farbgewimmel zu sehen. Dann die Brillen

brav wieder absetzen und sich von dem Tohuwabohu auf der Bühne weiter

überfahren lassen. Wer die Musik der Turandot liebt, kann nur enttäuscht sein, denn es fällt schwer,

diese zu genießen. Das ist, als wollte man mitten auf dem Stachus eine Nachtigall

zwitschern hören. Geht nicht.  Zuviel Getöse überdeckt die Melodie.


DAFÜR!
Turandot wurde endlich mal ent-kitscht. Wo sonst die emotionskalte Prinzessin von den

triefenden Gefühlen der Liebe überrumpelt wird, wirft Carlus Padrissa von

Fura dels Baus statt angestaubter Bühnenromantik eine moderne Parabel auf die Bühne.

Diese Turandot steht für ganz China: eine radikale Kultur-Studie, die Nostalgie und

Märchen-Stimmung ausmistet, bis nur noch das nackte Fragment einer technokratischen,

emotional verödeten Gesellschaft stehen bleibt. Vor diesem Bezug macht es Sinn,

dass Neonreklamen und Kostüme miteinander um die Wette schreien, die Bühne so gut wie nie

zur Ruhe kommt und der Zuschauer im Sog dieser futurstischen Großstadt hinweggespült

wird. Das düstere Szenario vermittelt die Botschaft aufs Beste!



Wie gesagt, über so ein Spektakel ließe sich herrlich an Münchner Stammtischen streiten.

Dem einen gefällts, dem anderen halt net. Eines kann man aber sicher pauschal festhalten:

Wer Turandot noch nie gehört hat, kann auch nach diesem Opernbesuch sagen,

er habe sie noch nie gehört. Denn Fakt ist, dass die Musik im Getummel des Spektakels

verloren geht. Im Grunde erlebt man hier eine Musical-Version der Oper.

Große Show außenrum, das Substantielle geht aber der Opulenz zuliebe verloren.




Dabei gibt es durchaus wundervolle Bilder zu sehen:
Etwa, wenn der Prinz von Persien kurz vor seiner Hinrichtung hereingerollt wird –

dutzende Kinder mit Laternen zerren ihn an meterlangen Ketten hinter sich auf einem

fahrbaren Metallturm her. Oder, wenn die drei Minister sich an ihr Zuhause erinnern,

die bescheidene Hütte am See, vom Bambus umgeben. Sie singen vor einem Meer

aus weißen Styropor-Schädeln, die von darunter verborgenen Tänzern zum Wabern und

Wogen gebracht werden.






























Foto:  ©  Wilfried  Hösl  /  Bayerische  Staatsoper ;  Alle  Rechte  vorbehalten



Dagegen scheint es schon arg bemüht, wenn zwei der Minister dann an Stahlseilen befestigt

vom Boden abheben und wie Zirkusartisten herumschweben. Überhaupt hat die

Inszenierung viel artistisches: Es wird getanzt, geschlittschuht, geklettert, an Seilen von der

Decke gehangen. Dass die Bilder nicht immer zur Musik passen und auch nicht unbedingt

Sinn machen müssen, scheint Fura dels Baus egal.


Tatsächlich fragwürdig ist die Idee mit den 3D-Brillen:
Dass der Megatrend aus dem Kino irgendwann die Opernbühne erreicht, war absehbar.

Bisher war ja die Video-Installation das Höchste der Gefühle.

Aber, wenn schon denn schon. Soll heißen: 3D an sich, Ja gerne! Aber dann bitte mit

Bildern auf der Bühne, die es lohnt, in dreideimensional gesehen zu werden.

In dieser Turandot sieht man im Grunde nur bunte Farbkreise und abstrakte Formen.

Die machen in 3D nicht mehr oder weniger her als mit normalem Auge.

Einzig zur großen Arie der Turandot „In questa reggia“ darf man sehen, wie eine junge Chinesin

Opfer eines Überfalls wird, eben wie Turandot es in ihrer Arie besingt. Für einen winzigen

Moment, als die 3D-Chinesin ihre Hand dem Publikum Hilfe suchend entgegenstreckt,

macht die 3D-Brille Sinn.

































Foto:  ©  Wilfried  Hösl  /  Bayerische  Staatsoper ;  Alle  Rechte  vorbehalten




Trotzdem: Viel Lärm um nichts. Und die Pappbrille, die jeder Besucher

im Foyer überreicht bekommt, galt ja nun schon in den 1970’er Jahren als blöd.

Wer heute 3D guckt, etwa im Kino, ist längst viel modernere, bequemere und technisch

überzeugendere Brillen gewöhnt. Aber die dürfte man am Ende des Abends

natürlich nicht mit heimnehmen und als Andenken und Seitenmerker ins Programmheft klemmen.

Apropos Programmheft: Kaufen Sie sich eines!
Denn darin wird erläutert, was Carlus Padrissa von Fura dels Baus uns mit seiner Inszenierung

eigentlich sagen will. Ohne Hefterl wundert man sich eher.


Etwas Schönes möchte ich zum Schluß aber doch noch berichten:
Bei aller Hektik und allem Rumgezerre auf der übervollen Bühne gibt es doch noch ein paar

kleine Ruhe-Inseln im optischen Schneegestöber:
Als der Tenor sein berühmtes „Nessun dorma“ singt („Keiner schlafe!“), wachsen dutzende,

turmartig gestapelte Wohnzellen aus dem Boden, wie in der Zukunft asiatischer

Megacities durchaus vorstellbar. Und wirklich, die darin Sitzenden und Liegenden schlafen nicht,

sondern nach und nach „entzünden“ sich unzählige Laternen der Neuzeit: Ipads, oder

Tablett-PCS. Überall werden emotionslose Gesichter von blauem Licht erhellt,

was eine wundervolle Licht-Stimmung auf die Bühne zaubert.































Foto:  ©  Wilfried  Hösl  /  Bayerische  Staatsoper ;  Alle  Rechte  vorbehalten



Zweites Highlight ist, wie sollte es anders sein, der Tod der Liu. Über mehrere Minuten

baut sich ein optisch hinreißendes wenn auch brutales Stilleben auf, voll poetischer An- und Demut.

Dieser Moment markiert nicht nur den Wandel der eisigen Turandot, sondern

erlöst auch den Zuschauer von rund zwei Stunden Bühnen-Feuerwerk. Durchatmen,

genießen, und sich den letzten Tönen der Musik hingeben.































Foto:  ©  Wilfried  Hösl  /  Bayerische  Staatsoper ;  Alle  Rechte  vorbehalten




Denn ganz folgerichtig lassen Fura dels Baus und Zubin Metha die Oper an dieser Stelle enden.

Soll heißen, exakt dort, wo Puccini starb – und seine letzte Oper nicht mehr vollenden konnte.

Meistens wird heutzutage der von Franco Alfano aus Puccinis Skizzen konstruierte

Schluß aufgeführt. In München endet die Turandot mit Lius Opfertod. Und das ist auch gut so.

Denn nach dem erlösend-stillen Untergang der Sklavin wieder die volle Fura-Maschinerie

anlaufen zu lassen und die letzte Viertel Stunde es auf der Bühne noch einmal so richtig krachen zu lassen,

würde dem schönsten Moment des Abends sein Strahlen nehmen.


Und so stolpert man, rund zwei Stunden optisch überladen und musikalisch nicht unbedingt befriedigt,

aus dem Opernhaus – und fühlt doch den unerträglichen Schmerz der Sklavin Liu noch ein paar

Stunden nach. In der Optik würde man das „Blindflecken“ nennen: Nachdem man zu lange auf eine

grelle, bunte Lichtquelle geschaut hat, tanzen einem noch Minuten später bunte Flecken vor

den Augen, wenn man sie schließt, um endlich Ruhe zu finden...

Diese Turandot ist nichts für Münchner, die die Oper nicht kennen und zum ersten Mal sehen,

bzw. hören wollen. Wer Turandot aber in- und auswendig kennt, mag sich freuen, einen

überfrachteten aber entkitschten Bilderreigen zu erleben.


Und auch hier gibt es als kleinen Vorgeschmack einen kleinen „Trailer“ zum Angucken
(einfach auf den Pfeil in der Mitte des Bildes klicken):

























Sollte das Video oben nicht funktionieren, gehen Sie bitte direkt über Youtube.de
(Einfach auf den Link klicken):

TURANDOT TRAILER





 

Foto:  ©  Wilfried  Hösl  /  Bayerische  Staatsoper ;  Alle  Rechte  vorbehalten